Mythen, Strohmänner und Desinformation – wie die Europäische Union propagandistisch angegriffen wird
Die Europäische Union ist nicht erst seit heute im Visier von Desinformanten und feindlich gesinnten Kräften. Propaganda und längst widerlegte EU-Mythen werden von Gegnern außerhalb und innerhalb der EU verbreitet.
von Dietmar Pichler
Wenn man an EU-Mythen denkt, fällt vielen wohl in erster Linie die längst abgeschaffte „Gurkenkrümmung“ ein, die eigentlich kein Produkt der „brüsseler Bürokratie“ war, sondern aktiv eingefordert wurde, damit die Effizienz im Transport erhöht werden kann. Etwas, das es übrigens nationalstaatlich in einigen EU-Ländern bereits gab, das aber niemals als Argument missbraucht wurde, um einen Staat aufzulösen.
Der Mythos rund um die Gurkenkrümmung lässt sich zumindest relativ rasch erklären. Anders verhält es sich mit dem Rahmennarrativ, dass die EU so unglaublich undemokratisch sei. Die Idee, dass in Brüssel eine geheime Fabrik stünde, die EU-Politik produziert, ist zwar nicht offiziell etabliert, scheint aber unbewusst doch irgendwie manifest zu sein. Tatsächlich wird das EU-Parlament direkt gewählt, es hat auch Einfluss auf die EU-Kommission, während die Kommissare von den Mitgliedstaaten entsendet werden. Die Ministerinnen und Minister sowie die Staatsoberhäupter der EU-Mitgliedstaaten sind ebenfalls EU-Entscheidungsträger, im Rahmen des Rates der Europäischen Union (auch Ministerrat genannt) und des Europäischen Rates.
Kurz gefasst: Die auf EU-Ebene entscheidenden Politiker sind direkt oder indirekt von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern gewählt und stammen letztlich aus den Mitgliedstaaten und nicht „aus Brüssel“. Warum es immer noch nicht Allgemeinwissen ist, dass unsere Ministerinnen und Minister, die Staatsoberhäupter, auch die Parlamente und sogar die Regionalpolitiker Europapolitik machen, lässt sich wohl nur mit bequemer oder gar irreführender Politik und fehlender strategischer Kommunikation erklären. Der Umstand, dass es sogar einen Europäischen Ausschuss der Regionen gibt, unter Einbezug europäischer Regionalpolitikerinnen und -politiker, ist ebenso vielen verborgen wie die generelle Funktionsweise der EU-Institutionen.
Die Grundaufklärungsarbeit, die hier noch geleistet werden muss, ist zwar zumindest teilweise in den Lehrplänen der Schulen angekommen, aber noch viel zu wenig intensiv. Dabei ist es existenziell für die Weiterführung und letztlich auch für die Erhaltung der europäischen Einigung, dass die Bürgerinnen und Bürger über Grundwissen verfügen, das Resilienz gegen Mythen und antieuropäische Propaganda schafft.
Wer greift die Europäische Union propagandistisch an? Nicht erst, aber insbesondere seit der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump gilt die EU als Feindbild im Informationsraum, an dem sich unterschiedliche Gruppierungen abarbeiten. In der russischen Staatspropaganda wurde bereits vor über zehn Jahren die Europäische Union abwertend als „Gayropa“ bezeichnet, und immer wieder hört man, dass „Satanisten“ hier das Sagen hätten. Eine große Rolle für diese Kampagne spielt die Solidarität der EU mit dem von Russland angegriffenen Beitrittskandidaten Ukraine, aber auch die EU als Wertegemeinschaft und als strategisches Hindernis beim Ziel, Europa zu spalten, sind Motive für die permanenten Angriffe.
Neben autokratischen Staaten gibt es durchaus auch „heimische“ Akteure, die für sogenannten „EU-Skeptizismus“ bekannt sind und immer wieder Narrative wie die EU als „Kriegstreiber“ streuen oder von einer „EU-Diktatur“ sprechen. Im EU-Parlament findet man Vertreter dieser Ansichten insbesondere in der Fraktion der Rechtspopulisten („Patriots“), in der Linksaußen-Fraktion („The Left“) und bei den Unabhängigen. Die Europäische Union hat bereits vor einem Jahrzehnt, lange vor vielen Mitgliedstaaten, erkannt, dass Themen wie Desinformation und Foreign Interference (ausländische Einflussnahme), insbesondere aus Russland, eine vermehrte Rolle spielen werden.
2015 wurde die East StratCom Task Force gegründet und das Faktencheck-Portal EUvsDisinfo gestartet, allerdings ohne nennenswerte Unterstützung der Mitgliedstaaten, weshalb die Reichweite bislang vergleichsweise gering geblieben ist. Die Task Force arbeitet eng mit Partnern in NATO und G7 zusammen, sammelt systematisch Fälle von Desinformation und veröffentlicht auf EUvsDisinfo sowohl Faktenchecks als auch Analysen zu wiederkehrenden Narrativen. Mit dem Rapid Alert System verfügt die EU außerdem über einen Mechanismus für den schnellen Austausch zwischen den Mitgliedstaaten, der bislang jedoch nur begrenzt genutzt wird. Ergänzend fördert die Kommission die Vernetzung von Forschung, Journalismus und Zivilgesellschaft durch das European Digital Media Observatory.
Die EU hat zudem den Begriff FIMI (Foreign Information Manipulation and Interference) eingeführt und veröffentlicht regelmäßig den FIMI Report, der einen Überblick über Einflussoperationen geben soll. Der Schwerpunkt liegt dabei stark auf dem digitalen Raum, während Einflussagenten und Multiplikatoren in den Mitgliedstaaten weniger im Fokus stehen. Dies wäre jedoch auch eine Aufgabe der Mitgliedstaaten selbst, die auf staatlicher, zivilgesellschaftlicher und medialer Ebene deutlich mehr leisten müssten, um dieser Herausforderung zu begegnen.
Update Oktober 2025 – EU „Wurstgate“:
„Wurstgate“ bezeichnet die Entscheidung des Europäischen Parlaments, dass pflanzliche Produkte künftig keine Bezeichnungen wie Wurst, Schnitzel oder Burger mehr tragen dürfen. Der Ursprung liegt in Forderungen aus Teilen der Landwirtschaft und des konservativen Lagers, die Fleischbegriffe schützen und eine mögliche Verbraucherverwirrung vermeiden wollen. Besonders viel Zustimmung kam aus dem rechten und konservativen Spektrum, darunter auch von Abgeordneten, die der EU eigentlich grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Interessanterweise führte gerade diese Entscheidung, also auch aus EU-kritischen Reihen unterstützt, zu einer lautstarken Debatte darüber, dass die EU zu sehr in Alltagsfragen eingreife und „alles vorschreiben“ wolle. Im Widerspruch dazu steht, dass proeuropäische Kräfte und Abgeordnete die Entscheidung scharf kritisierten und sie als Symbol einer rückwärtsgewandten Politik sahen, die Innovation und Nachhaltigkeit behindere. Oft wird in dieser Kritik übersehen, dass solche Beschlüsse nicht von anonymen EU-Behörden getroffen werden, sondern von gewählten Vertreterinnen und Vertretern aus den Mitgliedsstaaten selbst.
Bild: Dietmar Pichler