Das Narrativ rund um die ungarische Minderheit in der Ukraine auf dem Prüftstand – INVED Recherchereise
Motiv der Reise war neben der Kontaktpflege vor Ort unter anderem, mit Kollegen der legendären ukrainischen Faktenchecker-Plattform „StopFake“, mit Expertinnen und Experten sowie Betroffenen zu dem Narrativ „die ungarische Minderheit in der Ukraine wird schlecht behandelt“ zu recherchieren. Dank an dieser Stelle an jene, die extra nach Uschhorod gekommen sind, um mit uns zu arbeiten.
Man geht derzeit von rund 100.000 ethnischen Ungarn in der Ukraine aus, eine Zahl, die früher höher war, aber durch die russische Vollinvasion und das Verteilen ungarischer Pässe durch die Orbán-Regierung gesunken ist. Der Faktenchecker von StopFake weist darauf hin, dass die gesamte Region eine sehr tiefe ungarische Prägung hat, die selbstverständlich auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Einwohnerinnen und Einwohner, insbesondere der ungarischen Minderheit, hat.
Um tiefer in die Materie einzutreten, vereinbaren wir einen Termin beim Institute for Central European Strategy, das sich mit den Beziehungen der Ukraine zu ihren Nachbarländern und den jeweiligen Minderheiten auseinandersetzt. Wir werden von einer Reihe von Expertinnen und Experten empfangen, die auch auf die Beziehungen der ungarischen Minderheit zur Ukraine und zu Orbáns Ungarn spezialisiert sind.
Inved trifft in Uschhorod auch eine Universitätslektorin, die an einem ungarischen Institut in Berhovo unterrichtet, einer Stadt mit rund zur Hälfte ungarischen Einwohnern. Ihr Institut wird aus Ungarn finanziert. Aber viele Einrichtungen und Schulen für Ungarn werden auch vom ukrainischen Staat finanziert. Alle Kontakte, auch die ethnischen Ungarn, bescheinigen uns, dass es keine Unterdrückung der Ungarn gibt – im Gegenteil – es besteht eine hohe Loyalität dieser Minderheit zum ukrainischen Staat. Viele von ihnen kämpfen auch an der Front. Die uns in Österreich zugetragenen Beschwerden beruhen laut unseren Kontakten auf besonderen Interessenlagen, speziellen Bedürfnissen oder auf einer Desinformationskampagne, die zur Spaltung der Ungarn gegen die Ukrainer betrieben wird.
Dass diese Spaltung kein relevantes Ausmaß innerhalb der Ukraine entwickeln konnte, bestätigt uns auch in Wien Prof. Dr. Moser, Ukrainist an der Universität Wien:
„Die ungarische Minderheit, typisch für Minderheitengruppen generell, fordert ihre Rechte ein – in der Ukraine manchmal über Gebühr. Behauptungen über eine Unterdrückung der ungarischen Minderheit oder gar ein Verbot der ungarischen Sprache sind maßlos übertrieben. Die Forderung, dass jeder in der Ukraine auch (!) die Landessprache beherrschen soll, ist völlig nachvollziehbar.“
Sie ist es auch, die uns am nächsten Tag die zerstörte Fabrik bei Mukatschewo zeigt, die von einer russischen Rakete getroffen wurde. Auch die Oblast Transkarpatien ist also direkt vom Krieg betroffen, wenn sie auch klar die sicherste Region der Ukraine ist.
Wir besuchen neben Uschhorod auch Mukatschewo, wo wir einen Blick auf die Fabrik werfen, die durch einen russischen Raketentreffer schwer beschädigt wurde, sowie die stark ungarisch geprägte Stadt Berhovo. Die Lektorin erzählt uns, dass der Einschlag in der Fabrik auch in der Umgebung Schäden verursacht hat; es gab mehrere Verletzte.
Inved-Gründer Johannes Thun:
„Auch wenn dies als die sicherste Region der Ukraine gilt, sehen wir, dass kein Ort in der Ukraine vollständig sicher ist. Ich habe mir für die Reise die Air Alert App für Zivilisten heruntergeladen und alle Regionen der Ukraine aktiviert. Alle paar Minuten schreit am Handy die Sirene auf – wieder sind ukrainische Menschen bedroht – ‚go to shelter immediately‘ empfiehlt die App dringend! Es ist unglaublich, welchem Drohnen- und Raketenterror die Ukrainerinnen und Ukrainer laufend ausgesetzt sind.“

INVED-Gründer Johannes Thun steht vor einer durch Russland zerstörten Fabrik im Gebiet Mukachevo
Essenzen aus unseren Gesprächen und dem Lokalaugenschein vor Ort:
Sowohl die ukrainischstämmige Bevölkerung als auch die ungarischstämmigen Einwohnerinnen und Einwohner in der Region sind sich bewusst, dass Provokationen – von Propaganda und Desinformation bis hin zu Operationen unter falscher Flagge (etwa Schmieraktionen gegen die ungarische Minderheit) – von außen, insbesondere aus Ungarn und Russland, eingesetzt werden.
Es gibt ungarische Bildungseinrichtungen, die auch die ungarische Sprache zentral nutzen. Finanziert werden diese, je nach Institut, aus der Ukraine und/oder aus Ungarn. In der Stadt Berhovo sind zudem Straßenschilder zweisprachig angebracht.
Es ist in Transkarpatien, auch unter der ungarischen Minderheit, durchaus bekannt, dass es immer wieder zu Operationen unter falscher Flagge kommt, um das friedliche Zusammenleben zu stören. Die ungarische Minderheit ist dem ukrainischen Staat gegenüber nicht feindselig eingestellt. Seit der russischen Vollinvasion und durch die Propaganda aus Ungarn selbst haben sich sogar viele ukrainische Ungarn entschlossen, die Ukraine offen zivilgesellschaftlich oder direkt bei der Verteidigung als Freiwillige zu unterstützen.
Einige ethnische Ungarn in der Karpatenukraine ziehen sich allerdings aufgrund der aus Ungarn befeuerten Polarisierung aus dem öffentlichen Diskurs zurück und konzentrieren sich auf ihr wirtschaftliches Leben, um keine Risiken einzugehen oder Probleme zu bekommen.
Grundsätzlich sind die Auswirkungen des Narrativs von den „unterdrückten ethnischen Ungarn“ in der Ukraine auf vielfältige Weise präsent. Ziel ist es offenbar, die Gesellschaft in der Ukraine, speziell in dieser Region, zu spalten (was bislang laut unseren Informationen nicht gelingt), die Bevölkerung in Ungarn selbst gegen die Ukraine aufzubringen sowie die internationale Solidarität mit der Ukraine, insbesondere innerhalb der EU, zu untergraben.
Dazu Inved-Direktor Johannes Thun:
„Aus meiner Sicht führt Orbán einen hybriden Krieg gegen die Ukraine.“
Interessanterweise haben sich Narrative, wie man sie sonst von Orbán kennt, nicht nur in der rechten, sondern auch in Teilen der linken Szene der sogenannten „Ukraine-Kritiker“ verbreitet. Dazu INVED-Redakteur Dietmar Pichler:
„Es ist schon erstaunlich, wenn es gegen die Ukraine geht, dann halten viele, von denen man es eigentlich nicht erwarten würde, offensichtlich Putin und Orbán für glaubwürdige Quellen.“
In der westukrainischen Region Transkarpatien kam es Mitte Juli zu einem mutmaßlichen Brandanschlag auf eine griechisch-katholische Kirche im Dorf Palágykomoróc nahe Uschhorod, unweit der ungarischen Grenze. An der Fassade fand sich die hetzerische Aufschrift „Мадярів на ножі“ („Ungarn auf die Messer“), was diplomatische Spannungen zwischen Budapest und Kyjiw auslöste. Das Graffiti war nur kurz sichtbar und wurde rasch entfernt. Dennoch verbreiteten sich Fotos davon rasch in regierungsnahen ungarischen Medien und auf Viktor Orbáns Facebook-Seite.

Screenshot des reichweitenstarken Facebook-Postings von Orban. Zu sehen auch die Beschmierung mit fehlerhaften kyrillischen Schriftzeichen
Auffällig sind zudem orthografische Fehler, etwa ein falsches „Я“, das eher einem griechischen Alpha ähnelt, was massive Zweifel an der Urheberschaft weckt und Spekulationen über eine gezielte Provokation oder inszenierte Aktion durch Drittakteure nährt, etwa sogenannte „Wegwerfagenten“, die möglicherweise von ungarischer oder russischer Seite beauftragt wurden. Solche Vorfälle gab es bereits in der Vergangenheit, um Zwietracht in der Region zu erzeugen und die Ukraine zu dämonisieren.
Interessant ist, dass es von ukrainischer Seite bereits zuvor den Vorwurf gab, ungarische Agenten würden in der Ukraine spionieren. Der ukrainische Geheimdienst SBU meldete im Mai 2025, er habe ein ungarisches Spionagenetzwerk zerschlagen, das Informationen über militärische Einrichtungen und Verwaltungsstrukturen im Gebiet Transkarpatien gesammelt haben soll. Zwei Verdächtige wurden festgenommen, während Kyjiw zwei ungarische Diplomaten auswies. Budapest bestritt die Vorwürfe und sprach von politischer Propaganda.
Auch auf EU-Ebene gibt es inzwischen ähnliche Anschuldigungen. Nach Recherchen mehrerer europäischer Medien sollen ungarische Geheimdienstmitarbeiter in der Ständigen Vertretung Ungarns bei der EU versucht haben, Informanten in Brüssel zu rekrutieren und vertrauliche Dokumente zu beschaffen. Die EU-Kommission bestätigte, dass sie die Berichte „sehr ernst“ nehme und interne Untersuchungen eingeleitet habe.
