Neutralitäts-Mythen und Verzerrungen zum Nationalfeiertag
Pünktlich rund um den Nationalfeiertag wird auch die Diskussion um die österreichische Neutralität immer wieder verstärkt geführt. Besonders seit der vollumfänglichen Invasion der Ukraine im Jahr 2022 taucht das Thema immer wieder auf.
Es gibt Kritikerinnen und Kritiker am Status quo; manche wünschen sich eine breitere Diskussion über die österreichische Sicherheitspolitik, mehr europäische Zusammenarbeit oder vielleicht sogar einen NATO-Beitritt. Wieder andere sehen die Sache ganz anders und behaupten, dass Österreich heute viel zu wenig neutral sei – etwa, weil es die russische Invasion der Ukraine verurteilt und seit 1995 Mitglied der Europäischen Union ist.
Laut der Langzeitstudie „Austrian Foreign Policy Panel Project“ identifizieren sich 2025 rund 80 % der Österreicherinnen und Österreicher mit der Neutralität. Eine absolute Mehrheit der Wählerinnen und Wähler von NEOS, Grünen, ÖVP und SPÖ versteht Neutralität jedoch nicht als politische Neutralität – was FPÖ-Wählerinnen und -Wähler wiederum anders sehen: Sie wollen Neutralität auch als politische Unparteilichkeit verstanden wissen. Die 80 % der Bevölkerung, die sich mit der Neutralität verbunden fühlen, sind zweifellos nicht mit den oft radikalen „Neutralitäts-Aktivisten“ zu vergleichen, die ihre Fehlinterpretation der österreichischen Neutralität häufig mit pro-russischen und anti-europäischen Narrativen verknüpfen. Bereits 2022 fand eine Studie des Gallup Instituts heraus, dass “76% der Bevölkerung in Österreich und 67% in der Schweiz meinen, dass ein neutrales Land eine
klare Position gegen Aggression in internationalen Konflikten beziehen darf.”
1) Neutralität steht im Staatsvertrag
Nein, tut sie nicht.
“Wo ist die Neutralität verankert?
Die österreichische Neutralität hat ihre rechtliche Grundlage im Neutralitätsgesetz, also in einem rein innerstaatlichen Akt. Das Moskauer Memorandum, das von Österreich und der UdSSR im Vorfeld unterzeichnet worden war, wurde als bloß politische Absichtserklärung gesehen. Das Neutralitätsgesetz hält fest, dass Österreich seine immerwährende Neutralität freiwillig erklärt und sie aufrechterhalten und verteidigen wird. Österreich wird keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen. 1994 wurden die rechtlichen Grundlagen anlässlich des EU-Beitritts um eine Bestimmung im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) ergänzt: Art. 23f B-VG (heute: Art. 23j B-VG) passt die Neutralität an die EU-Mitgliedschaft an (siehe unten: Neutralität und EU-Mitgliedschaft).” Quelle Parlament Österreich
INVED-Gründer Johannes Thun zu dem Staatsvertrag-Mythos: “Die Millionenshow hat in sehr prägnanter Weise einem Millionenpublikum ein wichtiges Missverständnis aufgeklärt.
Die Neutralität ist nicht Teil des Staatsvertrags, sondern in unserer Verfassung verankert.
Das war ein wichtiger Beitrag zur Information der Bevölkerung, niederschwellig und effizient.
Dieses Beispiel zeigt auch, wie wirkungsvoll solche Formen der Wissensvermittlung sein können. Es unterstreicht die besondere Verantwortung der Produzenten von Unterhaltungssendungen, ob Quiz, Film oder Kabarett, in der Frage, welche Inhalte wie vermittelt werden.”
2) Neutralität bedeutet, dass wir bei einem Konflikt keine Seite unterstützen dürfen – auch nicht politisch.
Das ist falsch. Österreich ist militärisch neutral, das heißt, es erlaubt keine fremden Militärbasen auf seinem Boden und beteiligt sich nicht aktiv an militärischen Operationen. Österreich darf jedoch sehr wohl politisch Position beziehen und humanitär helfen.
Wenn eine imperialistische Macht wie Russland ein mit der EU assoziiertes europäisches Land – nämlich die Ukraine – angreift, darf Österreich selbstverständlich im Rahmen seiner Neutralität Stellung beziehen.
Politische Neutralität gab es auch während des Kalten Krieges nicht im Sinne völliger Gleichgültigkeit. Schon früher, etwa während der Ungarnkrise 1956 oder des Prager Frühlings 1968, war Österreich nicht „zwischen den Blöcken“, sondern Teil des demokratischen Westens – politisch wie wirtschaftlich.
Immer wieder wird hier eine verzerrte Sichtweise ins Spiel gebracht. Bei Neutralitätskundgebungen – zuletzt am Nationalfeiertag – wird häufig gefordert, sich auf „keine Seite“ zu stellen, weil nur das neutral wäre. Selbst Bruno Kreisky, der in dieser Szene oft zitiert wird, wies darauf hin, dass neutral keinesfalls neutralistisch bedeutet. Neutrale Staaten seien zwar militärisch ungebunden, aber dennoch eng mit den großen Ideen der europäischen Demokratie verbunden.
3) Neutralität hätte der Ukraine den Krieg erspart
Der russische Krieg gegen die Ukraine, der nicht erst 2022, sondern bereits 2014 mit der Annexion der Krim und verdeckten Operationen begann, ist ein imperialistischer Angriffskrieg.
Selbst die Großinvasion 2022 wurde von einer Vielzahl an fadenscheinigen „Kriegsgründen“ begleitet. Die angebliche „NATO-Bedrohung“ war nur einer davon. Gleichzeitig wurde der Ukraine regelmäßig das Existenzrecht und die Staatlichkeit abgesprochen.
Die Ukraine nahm erst nach der russischen Aggression 2014 Kurs in Richtung NATO-Mitgliedschaft, und ein Beitritt stand weder kurz- noch mittelfristig in Aussicht. Die Behauptung, Russland habe auf die „NATO-Absicht“ der Ukraine oder auf die NATO-Osterweiterung „reagiert“, verharmlost die wahren Kriegsgründe, die auf die Unterwerfung und Zerstörung des ukrainischen Staates abzielen.
Noch absurder sind Behauptungen, die Ukraine müsse sich nur „an Österreich orientieren“, dann würde der Krieg enden. Österreich grenzt weder an Russland, noch spricht Russland Österreich das Existenzrecht ab. Zudem ist Österreich durch seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union auch politisch und wirtschaftlich geschützt.
4) Verletzt „Sky Shield“ die Neutralität?
Die Frage, ob „Sky Shield“ mit der österreichischen Neutralität vereinbar ist, ist tatsächlich komplexer als jene der politischen Solidarität oder der Bewertung eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs. FPÖ und KPÖ kritisieren die Sky-Shield-Initiative scharf.
Das österreichische Bundesheer schreibt dazu in einer Frage-und-Antwort-Reihe:
Ist „Sky Shield“ mit unserer Neutralität vereinbar?
Am 7. Juli 2023 hat die Bundesministerin für Landesverteidigung, Klaudia Tanner, gemeinsam mit ihrer Schweizer Amtskollegin eine Absichtserklärung zur Teilnahme Österreichs an der „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) unterzeichnet.
In einer Zusatzerklärung zur Absichtserklärung ist ausdrücklich festgehalten, dass Österreich und die Schweiz beabsichtigen, sich an gemeinsamen Beschaffungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen der ESSI zu beteiligen, nicht jedoch an operativen Maßnahmen.
Ausdrücklich ausgeschlossen sind damit Maßnahmen, die als Teilnahme an einem Militärbündnis oder als Zulassen von Stützpunkten auf österreichischem Territorium gewertet werden könnten.
Der Umstand, dass auch die Schweiz, das wohl bekannteste neutrale Land der Welt und kein EU-Mitglied – Teil der Sky-Shield-Initiative ist, wird von vielen Kritikerinnen und Kritikern übersehen oder bewusst ausgeblendet.
Verfassungsjuristinnen und -juristen sehen „Sky Shield“ nicht oder zumindest nicht grundsätzlich als unvereinbar mit der österreichischen Neutralität. Entscheidend wird letztlich sein, wie im Ernstfall gehandelt oder eben nicht gehandelt wird.
5) Neutralität und Pazifismus
Wenn pazifistische Kreise oder Abrüstungsbefürworter sich auf die österreichische Neutralität beziehen, argumentieren sie eigentlich faktenwidrig. Angriffskriege sind ohnehin völkerrechtlich international verboten und geächtet, während die Bereitschaft, sich zu verteidigen und entsprechend verteidigungsbereit zu sein, für Österreich sogar ausdrücklich vorgeschrieben ist. So heißt es im Bundesverfassungsgesetz:
“Artikel 9a.
(1)Österreich bekennt sich zur umfassenden Landesverteidigung. Ihre Aufgabe ist es, die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität. Hiebei sind auch die verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihre Handlungsfähigkeit sowie die demokratischen Freiheiten der Einwohner vor gewaltsamen Angriffen von außen zu schützen und zu verteidigen.
(2)Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung”
Österreich bekennt sich also zur „umfassenden Landesverteidigung“ und zur Verteidigung seines Bundesgebietes, auch im Sinne der Neutralität. Um diese Fähigkeit sicherzustellen, braucht Österreich als neutrales Land tendenziell sogar einen höheren Wehretat, als wenn es in einem Verteidigungsbündnis wäre.
